Jon Fosse wurde 1959 in Haugesund an der norwegischen Westküste geboren und fand hier Inspiration für seine Werke. In Bergen studierte er Literaturwissenschaften, Soziologie und Psychologie. Zur Sprache und Literatur kam er über die Musik: Als Teenager befasste er sich mit Gitarren- und Geigenspiel und schrieb Pop- und Rocktexte. Sein umfassendes Oeuvre umfasst verschiedene Genres wie Theaterstücke, Romane, Gedichtbände, Essays, Kinderbücher und Übersetzungen. Fosse schreibt im Original in "Nynorsk", einer Kunstsprache, die sich aus norwegischen Dialekten zusammensetzt. Er gilt als meistgespielter Dramatiker der Welt und bedeutender Erneuerer des zeitgenössischen Theaters. Seine Stücke wurden in 40 Sprachen übersetzt und seit Mitte der 1990er-Jahre auf den großen Bühnen weltweit aufgeführt. Von seinen Landsleuten wird Fosse als erfolgreichster norwegischer Dramatiker seit Henrik Ibsen (1828-1906) gefeiert, zu seinen „Wahlverwandschaften“ zählen Namen wie Samuel Beckett, Thomas Bernhard und Georg Trakl. Er lebt heute in Oslo in der staatlichen Künstlerresidenz Grotten, in Frekhaug bei Bergen und in der niederösterreichischen Gemeinde Hainburg an der Donau.
Seit 2022 ist Fosse Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.
Fosses europäischer Durchbruch als Dramatiker gelang 1999 mit der Pariser Inszenierung seines Stücks Nokonkjem til å komme (Da kommt noch wer). Schon in diesem frühen Werk, das starke Emotionen wie ängstliche Vorfreude und lähmende Eifersucht aufgreift, wird Fosses Besonderheit offensichtlich. Durch die Reduktion von Sprache und dramatischer Handlung werden starke menschliche Gefühle von Angst und Ohnmacht allgemein verständlich nahegebracht.
Ebenso wurde Die Nacht singt ihre Lieder um die Jahrtausendwende mehrfach erfolgreich aufgeführt.
In seinem dramatischen Werk nutzt der Literaturnobelpreisträger Pausen und Unterbrechungen, um der Unsicherheit Ausdruck zu geben – und sie darüber hinaus mit Emotionen aufzuladen. Seine Stücke sind gekennzeichnet durch unvollständige Worten oder Taten, den Mangel an Entschlossenheit.
Auch im Roman Stengd gitar (Geschlossene Gitarre, 1985) geht es um diesen Zustand der Unentschlossenheit. Eine junge Mutter verlässt ihre Wohnung, um Müll in die Rutsche zu werfen, schließt sich aber mit ihrem Baby darin aus. Beispielhaft ist dieser Roman stark auf einen Stil reduziert, der als „Fosse-Minimalismus“ bekannt ist. Gleichzeitig arbeitet der Autor mit Stimmungen von Beklemmung und Ambivalenz. Ähnlich wie hier behandelt Fosse oft alltägliche Situationen, die aus dem Leben gegriffen sind.
In einem weiteren Roman Melancholia I und II (1995/96) befasst sich der Schriftsteller ausführlich mit der Biografie des Landschaftsmalers Lars Hartevig (1830 bis 1902). Ein zentrales Prosawerk ist Trilogien (Trilogie, 2016), bestehend aus Andvake (Schlaflos, 2007), Olavs Draumar (Olavs Träume, 2012) und Kveldsvævd (Abendmattigkeit, 2014). Es handelt sich um eine Saga über Liebe und Gewalt mit biblischen Anspielungen. Tatsächlich nehmen religiöse Motive bei Fosse, der erst Mitglied der Quäker war, dann zum Katholizismus konvertierte, eine wichtige Rolle ein. Ebenso ist die karge Küstenlandschaft typisch, denn dort spielen fast alle Fosse-Romane. Für diese spannungsreiche Erzählung wurde der Autor 2015 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet.
In Sterk vind (Starker Wind, 2021), einem so bezeichneten „dramatischen Gedicht“, wird deutlich, wie Fosse zunehmend mit Bildern und Symbolik arbeitet. In einem aktuellen Theaterstück I svarte skogen inne (Tief im schwarzen Wald, 2023) taucht das Motiv des Wanderers auf, worin ein Mann, der jegliche Navigationsfähigkeit verloren hat, mit seinem Auto in die Dunkelheit fährt und verschwindet.
Zuletzt ist Jon Fosse mit seinem Mammut-Prosawerk Heptalogie hervorgetreten, das bei Rowohlt in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel - er hat die meisten Werke ins Deutsche übertragen - in drei Bänden erscheint. Von dieser Reihe um den Maler Asle wurden Der andere Name (2019) und Ich ist ein anderer (2022) bereits veröffentlicht. Der Band Ein neuer Name ist für 2024 vorgesehen.
Jon Fosse folgt auf Annie Ernaux, die im vergangenen Jahr den begehrten Literaturnobelpreis entgegennahm. Der norwegische Autor war in der Buchbranche als Favorit gehandelt worden. Der Preis ist mit elf Millionen Schwedischen Kronen (aktuell rund 950.000 Euro) dotiert.
Neuere Werke in Deutsch:
Trilogie / übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2016. – Originaltitel: Trilogien
Ich bin der Wind und andere Stücke / übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. – Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2016 [Anthologie]
Die Nacht singt ihre Lieder und andere Stücke / übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. – Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2016 [insgesamt 3 Werke]
Denne uforklarlege stille = Diese unerklärliche Stille / Olav Christopher Jenssen, Radierungen ; übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. – Münster : Kleinheinrich, 2016
Der andere Name : Heptalogie I-II : Roman / übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. – Hamburg : Rowohlt, 2019. – Originaltitel: Det andre namnet. Septologien I-II
Kindheitsszenen / Holzschnitten Olav Christopher Jenssen ; übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. – Münster : Josef Kleinheinrich, 2019
Starker Wind : ein szenisches Gedicht von Jon Fosse : deutschsprachige Erstaufführung / Kammerspiele ; Redaktion: John von Düffel.– Berlin : Deutsches Theater Berlin, 2021
Ich ist ein anderer : Heptalogie III-V : Roman / übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. – Hamburg : Rowohlt, 2022. – Originaltitel: Eg er ein annan. Septologien III-V
Weitere Informationen:
Bio-Bibliografie auf der offiziellen Website zum Literaturnobelpreis (engl.)
Leben und Werk von Jon Fosse (Wikipedia)